Massage oder Kollision – Richtiges Üben

Was macht das Üben gesund? Und was ist schädlich? In diesem Artikel vertieft unser Anatomie-Experte Ronald Steiner die Thematik von Zug und Druck in der Bewegung.

Sich zu bewegen ist gesund – das weiß heute jeder. Muskeln und Bindegewebe brauchen das Wechselspiel aus Spannung und Druck, um elastisch und gesund zu bleiben. Begibt man sich beispielsweise in eine Vorwärtsbeuge, so entsteht auf der Rückseite des Körpers Zug. An der Vorderseite wird das Gewebe hingegen zusammengedrückt (Abbildung 1). Bei diesem Wechselspiel wirkt der Druck wie eine sanfte Massage und hilft, Muskeln und die umhüllenden Faszien gesund zu erhalten. Ganz ähnlich gilt dieses Prinzip für fast alle Bewegungsmuster im Yoga.

Abb1

Warum Yogahaltungen gesund sind

Am besten erschließt sich das Zusammenspiel von Zug und Druck beim achtsamen eigenen Üben. Am Beispiel einer Vorwärtsbeuge können Sie sehr gut beobachten, ob Bereiche Ihres Körpers einen sanften Druck erfahren und welche Bereiche das sind. Vielleicht drücken die Rippen oder der Bauch auf die Oberschenkel? In beiden Fällen können Sie ruhig atmen und die wohltuende Massage genießen. Dabei wird Flüssigkeit aus dem Gewebe heraustransportiert und neue Nährstoffe können anschließend einströmen. Zusätzlich fördert die Massage die Durchblutung der Muskulatur und verbessert die Regeneration. Wenn Sie möchten, gehen Sie nach und nach tiefer in die Position hinein.
Manchmal können Sie sich durch eine kleine Veränderung der Haltung auch mehr Bewegungsspielraum schaffen. Wenn beispielsweise der Druck zwischen Bauch und Oberschenkel unangenehm intensiv ist, dann können Sie die Beine ein wenig auseinanderrücken. In jedem Fall hilft es in der Vorwärtsbeuge, die Muskeln an der Rückseite des Körpers etwas zu aktivieren. Über einen Reflex, die so genannte Reziproke Hemmung, entspannt dann die Muskulatur an der Vorderseite ihres Körpers. Sie wird weicher und kann dem Druck leichter nachgeben. Dadurch wird die Massage intensiviert (Abbildung 2):

ABB2

 

Das Hüftgelenk in der Vorbeuge ist dabei nur ein Beispiel. Das Prinzip der Gewebsmassage durch Druck funktioniert bei vielen Übungen und in ganz verschiedenen Körperbereichen. Bei den verschiedenen Varianten des Drehsitzes beispielsweise drückt der Oberschenkel oder ein Fuß gegen den Bauch. Auch hier kann die Vorstellung helfen, sich aus der Position „herauszudrücken.“ Dazu aktivieren Sie Beinrückseiten und Rücken und entspannen im Gegenzug Bauch und Oberschenkelvorderseiten. So kann die massierte Muskulatur lockerlassen und mehr Raum ermöglichen.ABB2

Kollisionen vermeiden und Gelenke gesund erhalten

Beim genauen Hinspüren in den verschiedenen Yogahaltungen nehmen Sie aber nicht immer nur massierenden Druck oder dehnenden Zug wahr. Ganz wichtig ist es, diese wohltuenden Empfindungen davon zu unterscheiden, wenn es irgendwo im Körper beginnt zu „klemmen“ und Knochen auf Knochen trifft. Am Beispiel der Vorwärtsbeuge und der Hüftgelenke würde das typischerweise an der Innenseite des Hüftgelenks passieren. Hier kann der Oberschenkelhals hart mit dem Pfannenrand in Kollision kommen. Wir Ärzte nennen diesen Zustand ein „inneres Impingement“. Hier sollten Sie unbedingt die Bewegung zurücknehmen. Der Pfannenrand wird von einer filigranen Gelenklippe umhüllt. Beim wiederholten Einklemmen kann sich diese entzünden, spröde werden und schließlich einreißen. Die Folge sind nicht nur Schmerzen am Hüftgelenk, sondern auch eine ernstzunehmende Schädigung des Gelenks. Man wird dabei auch nicht beweglicher, ganz im Gegenteil: Durch die Entzündung und Gelenkschädigung verdickt sich der Pfannenrand. Die Beweglichkeit wird immer weiter eingeschränkt und die Kollision tritt schon früher in der Bewegung auf. Ein Teufelskreis also.
Am besten Sie lassen es gar nicht so weit kommen. Sobald es irgendwo im Körper „klemmt“ und Knochen auf Knochen trifft, sollten Sie drei wichtige Punkte beachten:

1. Lösen Sie sich ein wenig aus der Position heraus.

2. Bewegen Sie sich so, dass Sie das Hindernis der Kollision gewissermaßen umgehen.

3. Zentrieren Sie den Gelenkkopf im Gelenk. In der Vorwärtsbeuge und bezogen auf das Hüftgelenk können Sie das erreichen, indem Sie den Oberschenkelkopf bewusst nach hinten ziehen. Ein Gefühl, als wollten Sie Ihr Bein verkürzen (Abbildung 3).

Abb3

 

Auch hier ist das Hüftgelenk nur ein Beispiel. Ein inneres Impingement, also eine schädigende Kollision am Gelenk-rand, ist bei nahezu jedem Gelenk möglich. Daher gilt ganz allgemein: Eine Aktivierung der tiefsten Muskulatur an der Außenseite der Bewegung holt das Gelenk aus der Kollision heraus und zentriert den Gelenkkopf besser in seiner Gelenkpfanne.
Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit einmal dafür geschärft haben, wird dieses Prinzip der Ausrichtung in den verschiedensten Yogahaltungen mit der Zeit ganz selbstverständlich werden. Kollisionen von Knochen, bzw. ein inneres Impingement, werden kaum auftreten und Sie können mit vollem Bewusstsein in der Yogapraxis eine wohltuende Massage des ganzen Körpers genießen.

Viel Freude beim Üben!


Dr. Ronald Steiner ist Arzt für Sportmedizin und zählt zu den bekanntesten Praktikern des Ashtanga Yoga. Sein Unterricht baut eine Brücke zwischen angewandter Anatomie und lebendiger Philosophie, präziser Technik und praktischer Erfahrung. Mit viel Präzision und Praxisnähe unterrichtet er bei Aus- und Weiterbildungen Anatomie, Alignment und Yogatherapie.

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