Interview // Rod Stryker

Einheit auf allen Ebenen. Wilde Sexpraktiken, aufregende Massagen: Viele haben solche Bilder im Kopf, wenn sie das Wort „Tantra“ hören. Rod Stryker, ein bekannter Yoga-, Meditations- und Tantralehrer und Begründer von ParaYOGA aus den USA, betont im YOGA JOURNAL-Interview, dass es sich bei Tantra erst einmal nicht um Sex, sondern um eine Lebenseinstellung handelt.

YOGA JOURNAL: Viele denken bei Tantra sofort an esoterische Praktiken, die das Sexleben verbessern sollen. Ist das ein Mißverständnis oder kannst Du uns ein paar davon verraten?
ROD STRYKER (lacht): Zunächst einmal: Tantra ist eben nicht einfach nur Sex. Sex wird in der tantrischen Welt „Maithuna“ genannt und ist nur ein winzig kleiner Aspekt unter vielen anderen im Tantra. Tantra-Yoga ist ein riesiges Instrument zur Erweiterung des Bewusstseins. Es ermöglicht uns körperliche und sinnliche Erfahrungen, die verborgene energetische Prozesse im Körper hervorrufen – und unter anderem eben auch unsere sexuelle Lust steigern und bereichern können. Vor allem aber ermöglicht Tantra, unsere Selbstbezogenheit durch Gefühle der Verschmelzung zu überwinden.

Dein „ParaYoga“ basiert auf traditionellen Lehren – darunter auch Tantra. Welche Rolle spielt Tantra in diesem System und was genau steckt dahinter?
ParaYoga besteht aus den sogenannten sechs Juwelen: Dharma, Tantra, Vidya, Agni, Sri und Parampara. Jedem Menschen ist durch das Dharma eine größere Idee (Mahad) mitgegeben, die er im Laufe seines Lebens verwirklichen sollte. Durch die regelmäßige Yoga-Praxis finden wir heraus, welche Idee uns innewohnt und welches Talent uns mitgegeben wurde. Tantra lehrt uns, uns selbst zu meistern, um im Leben glücklich zu werden. Das bedeutet, dass wir lernen, unseren Geist („citta“) und unsere Lebenskraft („prana“) zu lenken. Alte (Ur-)Ängste, aus früheren Leben oder der Kindheit, müssen abgelegt werden, damit wir frei agieren und unser Leben positiv gestalten können. Das Wissen (vidya) aus den alten Schriften wie den Upanishaden, Patanjalis Yogasutra und der Bhagavad Gita helfen uns dabei, gelassen zu werden. Dabei lernen wir: Nicht alles, was wir wollen, ist auch gut für uns und unsere Ausgeglichenheit. Um voranzukommen, benötigen wir Agni, das innere Licht oder Feuer. Das Konzept des Sri stammt aus dem Hinduismus und besagt, dass allen Dingen eine tiefere Schönheit innewohnt. Der sechste Juwel, Parampara, ist die Tradition, Wissen weiterzugeben und dadurch die Evolution voranschreiten zu lassen. Sie vermittelt uns, dass wir uns durch Yoga nicht nur um unsere eigene Entwicklung, sondern auch um die der anderen kümmern sollten.

Wenn Du von Tantra sprichst, sprichst Du von zwei Schulen, die beide im Prinzip das gleiche Ziel haben, aber eine unterschiedliche Herangehensweise, um es zu erreichen. Wie darf man das verstehen?
Nun, die eine dieser beiden Schulen lehrt uns Bhoga, das Vergnügen oder sinnlichen Genuss an sich – dazu gehört unter anderem auch „Maithuna“, also Sex. Dabei ist Maithuna allerdings ebenso komplex wie der Bauplan eines Flugzeugs. Man muss schon alle Teile korrekt einbauen, um es abheben zu lassen. (lacht) Die andere Schule lehrt uns, unser erhöhtes Bewusstsein in unser alltägliches Leben zu integrieren, unsere erhöhte Schwingung zu halten und kontinuierlich zu erhöhen. Wenn wir beide Schulen aufmerksam besuchen, erleben wir höchste Ekstase und Glückseligkeit auch außerhalb des Schlafzimmers – in allen Lebensbereichen.

Wie gut funktioniert „Maithuna“ bei Dir? Erlebst Du die ständige Ekstase?
Nicht immer. (lacht) Aber es funktioniert sehr oft.

Woher hast du dein Wissen über Tantra?
Ich habe 17 Jahre lang bei Yogameister Kavi Yogiraj Mani Finger gelebt und bin anschließend bei zwei weiteren Meistern in die Lehre gegangen. Letztendlich hat mich aber jeder Mensch geprägt, der mir auf meinem Yogi-Weg begegnet ist – auch damalige Mitschüler wie Shiva Rea. Wir sind so etwas wie die Generation von Wegweisern für ein erwachendes spirituelles Bewusstsein.

Glaubst du an ein spirituelles Erwachen aller Lebewesen in diesem Leben?
Ich würde sagen, es besteht durchaus die Möglichkeit dazu. Es kommt nur darauf an, ob wir gemeinsam die richtigen Schritte zum Erreichen dieses Ziels gehen und wie sehr wir bereit sind, dafür an uns zu arbeiten.

‘Para’ bedeutet ‘höchstgestellt’ – die Zusammenführung aller Mühen. Wie viel kann ParaYoga bei Menschen bewirken, die sich bisher im Leben nur wenig um sich selbst „bemüht“ haben und jetzt mit der Praxis beginnen?
Die Wirkung von ParaYoga ist davon abhängig, inwieweit man dazu bereit ist, sich im Hier und Jetzt um Veränderung zu bemühen und sein Leben sowie die Sichtweise auf gewisse Dinge von Grund auf zu verändern. Ich denke, dass Yoga generell jeden Menschen auf den Weg bringen kann, ein glücklicheres und zufriedeneres Leben zu führen – wenn er dazu bereit ist. Dazu gehört auch eine konsequente Yogapraxis. Wer sich zurücklehnt und auf Veränderungen wartet, ohne etwas dafür zutun, wird vermutlich kein erfülltes Leben führen können.

Von Sina Scherer
Sina Scherer ist begeisterte Yogini, arbeitet als freie Autorin und PR-Beraterin in München.

 

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